35 Jahre Georgien an der Graswurzel erlebt (5)

Realitätsverlust bei allen Präsidenten

Wie versprochen, ab sofort werden die Graswurzelgeschichten immer wieder auch politisch. Denn es lohnt sich natürlich, für die die Erhellung der Hintergründe auch der einen oder anderen aktuellen politischen Entwicklung nachzulesen, was da in meinem Archiv journalistischer Beobachtung des Landes seit Ende der Sowjetzeit alles vergraben ist. Zu Beispiel dieser Artikel aus der Kaukasischen Post vom November 2012. Er handelt von den Regierungsperioden der drei georgischen Präsidenten Gamsachurdia, Schewardnadse und Saakaschwili. Natürlich muss er dann noch mit einem Nachtrag zum heutigen Untergrund-Präsidenten Iwanischwili ergänzt werden. Zunächst der Artikel von 2012:

Die letzten Tage georgischer Hoffnungsträger

Sie sind in ihrer Zeit alle als Hoffnungsträger Georgiens angetreten: Swiad Gamsachurdia, Eduard Schewardnadse, Micheil Saakashwili, die drei ersten Präsidenten des nachsowjetischen Georgiens. Sie hatten anfangs jeweils die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Und sie hatten lange vor dem Ende ihrer Amtszeit das Vertrauen verspielt, ohne dies zu realisieren.

Der erste führte Georgien aus der Sowjetunion in die Unabhängigkeit; der zweite überwand die Anarchie und vermachte dem Land eine Grundstaatlichkeit, die es vorher nicht hatte; der dritte überwand Alltags-Korruption und Kriminalität und verpasste dem Land eine Modernisierungskur ohnegleichen. Das sind die Habenseiten.

Und trotzdem scheiterten sie. Der erste, weil er das Land in einer rückwärts orientierten, das glanzvolle Mittelalter Georgiens überhöhenden Staatsphilosophie in die Stagnation führte denn in die Gegenwart, von der Zukunft ganz zu schweigen. Der zweite, weil er trotz aller innen- wie außenpolitischen Anfangserfolge die alles überwuchernde Korruption seines Regierungsumfeldes nicht in den Griff bekam. Der dritte, weil er die Diskrepanz zwischen demokratischem Anspruch und selbstherrlichem Regierungsstil vor allem seiner sich selbst bedienenden Entourage, aber auch die Diskrepanz zwischen politischem Schein und sozialer Realität im Lande nicht mehr erkennen konnte. Realitätsverlust – bei allen drei die Kehrseite der Medaille Macht. Sie hatten sich in ihrer Amtszeit meilenweit von denen entfernt, die sie einmal mehr oder weniger enthusiastisch begrüßt und gefeiert haben.

Gemein ist es den dreien auch, dass es jeweils enge Mitstreiter waren, die vor und hinter den Kulissen den Niedergang herbeiführten, aus welchen Motiven auch immer. Gamsachurdia wurde von Tengiz Kitowani, seinem ehemaligen Leibwächter und Verteidigungsminister der ersten Zeit, und  Tengiz Sigua, seinem Ministerpräsidenten, gestürzt. Schewardnadse wurde machtlos, als sich seine ehemaligen Vertrauten Saakaschwili und Schwania – der eine Justizminister, Parlamentspräsident der andere – von ihm losgesagt hatten. Mit mehr oder weniger offenkundiger Unterstützung von engsten Mitarbeitern Schewardnadses, die nach außen loyal, in den entscheidenden Stunden der so genannten „Rosenrevolution“ aber nicht ganz ohne Planung und Strategie die Seiten gewechselt hatten. Und nicht wenige der führenden Köpfe des Georgischen Traums waren in der Endphase Schewardnadses mit Saakaschwili auf die Straßen gegangen und bekleideten dann auch hohe Positionen in dessen Regierung und Verwaltung. Mit zunehmender Selbstherrlichkeit Saakaschwilis hatten sie sich von ihm entfernt oder wurden von dem mehr und mehr beratungsresistent gewordenen Präsidenten aufs Abstellgleis geschoben. Alle drei Präsidenten hatten nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung, sondern auch das Vertrauen entscheidender Teile der inneren Zirkel des Landes verspielt. Alle drei hatten den Stimmungsumschwung nicht mitbekommen.

Allen drei Machtwechseln ist ein weiteres gemein: In jedem Fall haben auch politische Kräfte außerhalb des Landes mitgemischt. Gamsachurdia hatte weder in Russland noch im Westen, Europa oder den USA, irgendeinen, der ihn unterstützt hätte. Sein Sturz ist ohne dramaturgische Hilfe aus Moskau und Washington kaum erklärbar. Deutlicher wurde dies beim Sturz Schewardnadses, bei dem vor allem den USA mit ihrem damaligen Botschafter Richard Miles eine nicht zu unterschätzende Rolle hinter den Kulissen nicht abgesprochen werden kann. Auch beim demokratischen Machtwechsel von Saakaschwili zu Iwanischwili darf man die Rolle Amerikas vor allem, aber auch die Europas, mit ihren Appellen nach einem demokratischen Wahlvorgang nicht unterschätzen. Was wäre vielleicht doch geschehen, wenn diese Wahl und ihr Ausgang vom Ausland her nicht allenthalben als entscheidender Lackmustest für die europäisch-atlantische Integration hochstilisiert worden wäre? (Warum, so darf man heute diesen Artikel ergänzen, hat Mischa damals nicht die Wahlen annulliert und den Notstand ausgerufen, was ihm von der einen oder anderen europäischen Botschaft in Tiflis noch Tage nach den Wahlen und dem Verlust seiner Macht zugetraut wurde? Vor allem in Washington hatte man ihm schon Monate vor dem Urnengang ziemlich klar bedeutet, dass man ihm nichts anderes erlauben würde, als den Ausgang der Wahlen zu akzeptieren und einen sauberen Machtwechsel, so er das Ergebnis der Wahlen sein würde, zu ermöglichen.)

Die wesentlichen Unterschiede dieser Machtwechsel: Der erste Präsident wurde mit Militärgewalt aus dem Amt getrieben, der zweite durch den Druck der Straße, der dritte hat seine Alleingewalt an den Wahlurnen verloren. Ein gewaltiger Fortschritt, einer, der nicht zu unterschätzen ist.

Sollte der neue Hoffnungsträger seine Ankündigung wahr machen und sich in zwei Jahren in die Zivilgesellschaft zurückziehen, wird ihm das alles mit Sicherheit erspart bleiben. Bis dahin aber werden die Georgier samt ihrer politischen Elite im Schnelldurchlauf einen demokratischen Reifeprozess durchmachen müssen, der seinesgleichen sucht in der Geschichte nicht nur dieses Landes. Ob zwei Jahre reichen?

Soweit die Hintergrund-Analyse aus dem Jahr 2012. Natürlich gibt es jetzt Fragen zum vierten starken Mann der letzen 35 Jahre, wenngleich der ja niemals Präsident war. Er war nur so lange Premier-Minister, wie die Restamtszeit Saakaschwilis als Präsident noch andauerte. Unabhängig von vielen weiteren Geschichten über Bidsina, die noch folgen, hier ein paar erste Bemerkungen zur aktuellen Ergänzung des damaligen Artikels:

Ganz sicher spielte Iwanischwili am Anfang dieselbe Rolle wie die früheren Präsidenten: Er war der einzige, der mit dem Horror der letzten Jahre von Saakaschwili aufräumen konnte. In einem Land, das alles andere vorweisen konnte (und das gilt heute noch unverändert) als ein einigermaßen funktionierendes demokratisches System samt entsprechender Tradition, brauchte es immer den einen, der zum Putsch gegen den eigentlich übermächtig erscheinenden Amtsinhaber fähig war. Einer, der sich als Nachfolger mit Führungs-Ambitionen aufbauen, besser gesagt aufdrängen konnte. Aus dieser „General-Sekretärs-Mentalität“ früherer Zeiten hat sich die Gesellschaft Georgiens bis heute anscheinend kaum befreien können.

Da Iwanischwili damals versprochen hatte, das Land in eine „Mehr-Parteien-Demokratie“ zu führen, war er für viele, auch für mich und meine Journalisten-Kollegen, so etwas wie ein Hoffnungsträger. Er hatte ja auch die damals wohl einzige, wirklich demokratisch gesinnte Partei wie die Republikaner (Liberale) unter dem Parlamentspräsidenten Dato Usupaschwili in seine Traum-Koalition eingebunden. Dass dieser schon vier Jahre später einsehen musste, dass Iwanischwili dann doch nur eigene Wege zu gehen bereit war und sich auf eine Alleinherrschaft des Georgischen Traums unter seiner Hintergrund-Regie einrichtete, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Zeit. Dazu gehört dann allerdings auch, dass es bis heute keine Person und keine Partei geschafft hat, sich zu einem ernst zu nehmenden Gegner des Polit- und Wirtschafts-Oligarchen aufzubauen. Was immer sich in diesen Tagen auf der Straße an Opposition zeigt, hat mit dem, was wir als demokratische Bewegung in einem funktionierenden Parteiensystem kennen, so gut wie nichts zu tun, egal wie viele Tausend Menschen sich jede Nacht auf dem Rustaveli-Prospekt oder irgendwo anders in Stadt und Land versammeln. Kaum eine der politischen Parteien oder Bewegungen hat so etwas wie eine innerparteiliche Diskussions- und Entscheidungs-Kultur. Alle erscheinen sie als althergebrachte Muster eines Interessensnetzwerkes mit einem oder mehreren „Führern“ an der Spitze. Ob diese Parteien wirklich den Anspruch erheben können, so etwas wie die gesellschaftliche Speerspitze westlicher Integration zu sein, könnte in Georgien wie anderswo wirklich einmal hinterfragt werden, bevor politische Bewertungen als allgemein-gültige Glaubensbekenntnisse gestreut werden, denen niemand widersprechen darf, will er nicht aus der „Blase der Menschen guten Willens“ ausgeschlossen werden. Bei aller berechtigten Kritik an der autokratischen Entwicklung des Systems Iwanischwili, bleibt für mich, festzuhalten: Es ist auch der Unfähigkeit der politischen Elite des Landes und seiner Parteien zuzuschreiben, dass dieser heute so schalten und walten kann, wie er will.  Darüber werden wir in der einen oder anderen Graswurzelgeschichte noch nachzudenken haben.

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