35 Jahre Georgien erlebt (3)

Rezos Tante oder Der Sonnenaufgang von Alvani

Hier die dritte Graswurzel-Geschichte aus 35 Jahren Georgien. Sie ereignete sich in der ersten Januar-Woche des Jahres 1990, als wir mit dem Schüleraustausch für zwei Tage nach Kachetien fuhren. Erzählt habe ich sie schon im Jahr 2000 im „Landschaftsbuch Kaukaus“, damals erschienen im Prestel-Verlag, eine erste Anekdote, wie ich damals die georgische Gastfreundschaft habe erleben und „verarbeiten“ dürfen.

Es war schon spät am Abend, als uns Rezo, ein junger Lehrer aus Tbilissi, im Intourist-Hotel Kacheti in Telawi mit seinem Besuch überraschte. Rezo hatte uns Tage zuvor in Moskau abgeholt und uns sicher nach Georgien gebracht. Jetzt waren wir mit unseren Gastgebern, Lehrern und Schülern aus Tbilissi, für zwei Tage nach Ost-Georgien gefahren. Das Hotel Kacheti ist einer der typischen Bettenburgen sozialistischer Einheitsarchitektur mit dem unschätzbaren Vorteil, dass man sich sofort heimisch fühlt, egal in welchem Zipfel des untergegangenen Großreiches man sich befindet. Es war damals noch in Betrieb, präsentierte sich aber schon in einem erbärmlichen Zustand. Kein Licht, unsägliche Toiletten, keine Heizung, selten Wasser, eingeschlagene Fensterscheiben. Die Küche war außer Betrieb.

„Kommt“, sagte Rezo nach dem Abendessen, das uns in einem kleinen Lokal in der Nachbarschaft serviert wurde, „kommt mit, ein paar Freunde warten“. Er hakte mich unter und zerrte mich, ob ich wollte oder nicht, einfach mit. Natürlich wollte ich…

Rezo brachte uns, zwei Lehrer und mich, in kurzer Fahrt ins kleine Dörfchen Alvani, wo seine Tante wohnte. Die Gute schlief bereits, als ihr Neffe mit seinen Gästen aus Tbilissi an der Tür pochte. Elf Uhr in der Nacht mag es gewesen sein. Im Nachtrock erschien sie, etwas verschlafen und zerknittert, aber keine Frage für Rezos Tante, wir wurden sofort ins Haus gebeten. „Wenn ich Dich einmal in Deutschland besuche, hast Du dann auch so eine Tante, die wir mitten in der Nacht überfallen können?“

Der Gast – von Gott gesandt

Für Rezos Tante war es anscheinend nicht er erste Überfall, den ihr der Neffe aus Tbilissi bescherte. Denn, was jetzt folgte, geschah mit einer Selbstverständlichkeit, die ich erst viel später nach einigen Jahren in Georgien begreifen sollte. Kommen Gäste, egal um welche Uhrzeit, spielt sich in einem Dorfhaushalt lautlose Routine ab. Sie muss seit Jahrhunderten eingeübt sein. Keine Hektik, alles läuft nach Plan, jeder Gang, jede Handreichung mache Sinn, auch das Tempo, das zunächst etwas gemächlich erscheint. Aber oft wird noch schnell ein Huhn geschlachtet, das dann erst einmal gegart werden muss, bevor es in Nuss-Sauce aufgetischt werden kann: Tsatsivi. In der Zwischenzeit werden Chatschapuri gebacken, Fladenbrote mit Käsefüllung, die Georgier zu allen Tages- und Nachtzeiten in Unmengen verzehren können. Oder in sprudelndem Salzwasser garen Chinkali, kunstvoll gefaltete Nudelteigtaschen mit einem Innenleben aus Hackfleisch mit viel Brühe, manchmal auch mit Käse gefüllt. Gute Chinkali haben mindestens 19 Falten, für viele Hausfrauen ist es eine Ehrensache, deutlich mehr Falten in den Nudelteig zu knubbeln, wurde uns staunenden Zuschauern erzählt. Gelegentlich wird Maisbrei aufgekocht – Romi, mit Sulguni-Käse und Tsatsiwi-Sauce eine rustikale Delikatesse. Warmes Maisbrot gibt es meist, in flachen Pfannen auf dem Herd gebacken, dann Spinatbrei mit Walnüssen – Mpkchali. Natürlich auch Käse, Tomaten, Gurken – Kveli, Pomidori, Kidri – und Grünzeug, das erst in den Mund geschoben wird, wenn es mehr oder weniger kunstvoll zu einem kleinen Zopf geflochten wurde. Bei größeren Tafeln gibt es selbstverständlich noch Fleisch, meist vom Schwein und über Holzkohle gegrillt – Mzvadi.

Nicht ohne einen Tamada

Rezos Cousin wurde in der Nachbarschaft aus dem Bett geholt, auf ihn wartete die Rolle des Gastgebers und Mundschenks. Die Alte lebte alleine und da es keine Tafel ohne Gastgeber gibt, ohne einen „Tamada“, durfte sich dieser junge Mann, um die 30 Jahre mag er gewesen sein, mit uns die Nacht um die Ohren schlagen. Ob er einen harten Arbeitstag hinter sich hatte oder morgen früh eine Verpflichtung auf ihn wartete, war Nebensache. Gäste waren gekommen. Und da diese von Gott gesandt sind, ist es heiligste Pflicht, sie zu ehren. Und das geht nun mal nicht ohne einen Tamada.

Es war schon weit nach Mitternacht, als wir dann an die reich gedeckte Tafel geführt wurden. Bis dahin hatten wir uns die Zeit mit Plaudereien im Garten vertrieben. Es wurde unendlich viel gelacht in dieser Nacht und gesungen. Die Trinksprüche waren, wie später noch oft genug erlebt, erst kurzweilig und launig, dann etwas langatmig und verschachtelt, bis sie sich schließlich zu nicht mehr enden wollenden Monologen aufschwangen. Fünf oder sechs Uhr am Morgen wird es wohl gewesen sein, als die gemeinsam erarbeitete Bettschwere die Gesellschaft in die von Rezos Tante zwischenzeitlich vorbereiteten Betten trieb. Die Männer durften in einen Raum, die Frauen in einen zweiten, wobei anzumerken wäre, dass im Laufe der Nacht die eine oder andere Person aus Rezos Freundeskreis aus Tbilissi auftauchte. Sie alle schienen das Haus seiner Tante in Alvani gut zu kennen. Am Ende waren mehr als 15 Lehrerinnen und Lehrer aus Tbilissi und Telawi zusammen gekommen.

Als ausländischem Gast wurde mir die Ehre eines kleinen Doppelzimmers zuteil das ich mit Nodar, einem Deutschlehrer, teilte. Während sich Nodar mehr als nur rechtschaffen müde getrunken hatte und sofort in einen gesunden Tiefschlaf verfiel, als er die Nähe seiner Liegestatt auch nur erahnte, war ich trotz durchzechter Nacht noch recht unternehmungslustig. Man hatte mir einen besonderen Wein eingeschenkt: Saperavi, ausgebaut in Tonkrügen, die in den Boden eingelassen sind. Rezos Tante hatte nicht allzu viel von diesen herrlichen Tropfen, er war deshalb immer besonderen Gästen vorbehalten. Und deshalb durfte ich entgegen allen Regeln des georgischen Tischs diesen wunderschönen Wein ausnahmsweise in kleinen Dosierungen genießen. Es wäre wirklich eine Sünde gewesen, diesen Saperavi von Rezos Tante wie einen Kneipenwein runterzuschütten.

Der Traum vom Sonnenaufgang

Deshalb war ich der einzige der ganzen Tafel, der morgens um sechs Uhr überhaupt noch auf die Idee kommen konnte, dass da in absehbarer Zeit die Sonne über dem Kaukasus aufgehen müsste. Vom Garten aus war das frühe Morgendämmerlicht über der schneebedeckten Gipfelkette schon zu erahnen. Warum also schlafen, wenn sich nachher die Sonne in ihrer vollen Pracht über dem Kaukasus zeigen würde? Außerdem war es trotz der Winterzeit angenehm warm im Alasani-Tal. Voll euphorischer Erwartung auf das bevorstehende Naturschauspiel und vom Saperavi trotz aller Zurückhaltung im Konsum dennoch angenehm beschwingt stand ich alleine, in mich und meinen Traum vom Sonnenaufgang versunken, im Garten von Rezos Tante.

Jäh riss diese mich aus meinen Träumen und schob mich mit sanfter, aber keinen Widerstand duldender Gewalt zurück ins Haus. Alle Versuche, der Alten meinen naiven Wunsch mitzuteilen, schlugen fehl. Je heftiger ich den bevorstehenden Sonnenaufgang mit meinen Händen in den Nachthimmel von Alvani zu fuchteln versuchte, schien bei Rezos Tante die Gewissheit zu wachsen, mein Zustand würde sich von dem der übrigen Gesellschaft nur unwesentlich unterscheiden, weshalb es ihrer traditionellen Fürsorgepflicht oblag, den Gast in sein Schlafgemach zu bugsieren.

Nodar, der Deutschlehrer, der mir dort hätte helfen können, war trotz massivster Streicheleinheiten auf beide Wangen nicht zu reanimieren. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten, bis im Schlafzimmer von Rezos Tante die Petroleum-Lampe ausging. Ein paar Augenblicke noch und ich schlich mich wieder raus in den Garten. Es war noch einmal merklich heller geworden, die Silhouette der Kaukasus-Kette war jetzt deutlicher zu sehen. Der Traum vom Sonnenaufgang war zum Greifen nahe.

Allerdings hatte ich die Hartnäckigkeit von Rezos Tante unterschätzt. Dieses Mal holte sie ihren Neffen, der die ganze Nacht dafür gesorgt hatte, dass die Weinkrüge nie leer wurden, ein zweites Mal aus dem Bett. Der Bursche packte mich und trug mich zurück ins Zimmer, setzte mich direkt vor meinem Bett ab, um mir zunächst die Schuhe und dann auch noch Hose und Hemd auszuziehen und mich endgültig ins Bett zu drücken. Auf die Idee, mit Armen oder Beinen erneut die Harmlosigkeit meines Begehrens darzustellen, kam ich erst gar nicht, denn Rezos Tante hielt mich bei dieser Zwangsentkleidung fest und Nodar, mein Freund und Übersetzer, ließ sich noch nicht einmal durch den Lärm, den die beiden mit mir veranstalteten, in seinem weinseligen Tiefschlaf stören. Jeglicher Widerstand war zwecklos, sogar der kleinlaute Versuch, mich dem Schicksal zu ergeben und mich selbst meiner Klamotten entledigen zu dürfen, wurde von Rezos Tante als erneuter Anflug trunkener Renitenz gedeutet und mit noch festerem Zugriff geahndet, während draußen über dem Kaukasus-Hauptkamm gerade die Sonne aufging, meine Sonne.

Jedenfalls war es schon recht hell, als die beiden mich ein zweites Mal ins Bett geschafft und mir mit entschlossenen Mienen bedeutet hatten, einen dritten Ausbruchsversuch ebenso wenig zuzulassen wie die beiden ersten. Und da sie beim Verlassen des Zimmers sicherheitshalber noch die Tür verschlossen, blieb mir nichts anderes übrig, als mich vom Schlaf, dem ich bisher tapfer getrotzt hatte, endlich auch überwältigen zu lassen und den Sonnenaufgang von Alvani auf einen der nächsten Besuche zu verschieben….