35 Jahre Georgien an der Graswurzel erlebt (8)

Georgien und die NATO-Mitgliedschaft (Folge 3)

Trotz der Unabhängigkeit Georgiens im April 1991 und seiner Weigerung der GUS beizutreten, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, hatte das Land noch einige Jahre vor allem mit dem Erbe der Roten Armee zu tun. Diese verblieb in Georgien in zwei größeren Stützpunkten – Achalkalaki und Batumi – und dem so genannten „Oberkommando der Transkaukasischen Streitkräfte“ in Tbilissi, die dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation unterstellt war. Da das Gebäude in seiner ursprünglichen Größe nicht mehr gebraucht wurde, zog in einen Flügel das georgische Verteidigungsministerium ein. Eine Nachbarschaft, die durchaus funktionierte, jedenfalls erinnere ich mich nicht an irgendwelche ernsteren Kontroversen, zumindest in den ersten Jahren. Erst im Jahr 2005 konnte die damalige Außenministerin Salome Surabischwili in Moskau ein Abkommen aushandeln, das die Schließung der russischen Garnisonen in Georgien einleitete. In den Anfangsjahren der jungen Republik war demnach von der NATO so gut wie nichts zu sehen, wenn man einmal von der intensiven Zusammenarbeit der georgischen Armee mit dem Verteidigungsministerium des NATO-Nachbarn Türkei absieht. Mehr dazu in der nächsten Folge der Graswurzelgeschichten. Im Frühjahr 2002 zeigte sich die NATO erstmals auf georgischem Boden mit einer Truppenübung im Rahmen der Aktion „Partnerschaft für den Frieden“. Über dieses Manöver habe ich in meinem damaligen Online-Magazin „Georgien News“ diesen Bericht publiziert:

„Quickly! Quickly! Dawai!“
NATO übt in Vaziani

„Quickly! Quickly! Dawai!!“ ruft ein Unteroffizier mit österreichischem Akzent seinem Multi-Kulti-Haufen zu. Soeben haben die knapp 50 Mann zehn Funkgeräte zusammengebaut, einen Funkspruch abgesetzt und die Geräte wieder zerlegt. Im Laufschritt geht es weiter zur nächsten Station des Rundkurses. Auf Tragbahren müssen je vier Soldaten einen Kameraden eine Böschung hinunter und wieder hinauf tragen. Ebenfalls im Laufschritt versteht sich, denn es geht um Sieg und Platz in diesem militärisch-sportlichen Wettkampf. Die teilnehmenden Teams, die da auf der georgischen Militärbasis Vaziani von Schweiß und Regen durchnässt das Zusammenspiel üben, sind bunt zusammengewürfelt. Russisch wird da herumgebrüllt, englisch, türkisch, griechisch, armenisch, georgisch, bulgarisch, rumänisch und aseraidschanisch. Lediglich die Schiedsrichter an den einzelnen Stationen spornen die Teilnehmer im NATO-Einheitsslang an: „Come on guys, you`re good in time.“ „Good effort, boy!“

Die NATO übt in Georgien im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ zum ersten Mal mit Landstreitkräften, ein ähnliches Seemanöver fand ein Jahr zuvor im Mittelmeer statt. Russland, das vor einem Jahr erst das Übungsgelände in Vaziani geräumt hatte, ist nicht dabei. Zumindest sein Militär glänzt durch Abwesenheit, dafür ist die russische Journaille umso intensiver engagiert. Schon die erste Frage beim Eröffnungs-Presse-Briefing des NATO-Manövers „Best Efforts 2002“ machte das besondere Interesse der Moskauer Medien an diesem Manöver deutlich: Warum denn die Russen nicht teilnähmen, wollte eine russisch sprechende und auch russisch aussehende Journalistin von den beiden Offizieren aus Kanada und Georgien wissen. Die Antwort des Kanadiers: Solch ein Manöver werde von langer Hand vorgeplant. Man habe einen Gastgeber gesucht, die Georgier hätten sich gemeldet und recht schnell den Zuschlag bekommen. Dann habe man alle NATO- und NATO-Partner-Länder zur Teilnahme eingeladen. „Wenn sich nur 15 gemeldet haben, dann wollten eben auch nur 15 teilnehmen. Und im Übrigen hat das Manöver mit aktuellen welt- oder regionalpolitischen Ereignissen nichts zu tun.“ Ende der Durchsage. Keine allzu konkrete Antwort auf die Frage, die die georgischen und russischen Journalisten am meisten bewegt.

Dem Manöver liegt nach den Aussagen der NATO-Offiziellen aus dem  gemeinsamen Kommando Südost, das in Izmir beheimatet ist, kein Verteidigungsszenario zugrunde. Wie sollte es auch, nehmen doch neben den NATO-Staaten Kanada, USA, Griechenland, Ungarn, der Türkei und Großbritannien auch die Partner-Länder Armenien, Österreich, Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Lettland, Moldawien, Rumänien und die Ukraine teil. Usbekistan hatte wenige Tage vor Manöverbeginn noch einen Rückzieher gemacht.

Das Szenario sieht eine von der NATO geführte, fiktive multinationale Friedensmission unter UN-Mandat vor. Es soll vor allem die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Streitkräfte in einem solchen Mandat trainieren. Man will die verschiedenen Leistungslevels testen und die Soldaten dieser Länder auf ein einheitliches Verständnis bei gemeinsamen Friedensmissionen trimmen. Besonders wichtig ist den Manöver-Strategen der NATO der medizinische Teil. Mit zehn Militärärzten aus acht Ländern habe man die größte Medizin-Abteilung eines solchen Manövers aufgeboten, um auch auf diesem Feld die multinationale Zusammenarbeit zu erproben. Auf dem Übungsgelände Vaziani haben die Georgier mit türkischer Finanz- und Bauhilfe eine ansehnliche Krankenstation hingestellt.

800 Soldaten nehmen an der Übung teil, bei der neben dem Training der Stäbe auch gemeinsame Patrouillen und Straßenkontrollen eingeübt werden sollen. Am ersten Tag stand ein militärisch-sportlicher Wettkampf auf Zug-Ebene auf der Tagesordnung. Zu den einzelnen Zügen hatte man Soldaten aus allen teilnehmenden Nationen abgeordnet. Gegenseitiges Verstehen und Helfen stand neben dem rein körperlichen Leistungstest im Mittelpunkt. Nicht ganz so einfach, gestand ein österreichischer Soldat. Mit den Kameraden aus dem Westen könne man sich in Englisch verständigen, aber bei allen anderen müsse immer irgendeiner dolmetschen. Bei einem Hindernisparcours, der im Laufschritt zu absolvieren war, nicht ganz so einfach.

All dies ist eigentlich kein Szenario, das irgendjemanden beunruhigen könnte. Unter westlichen Militärs wird diese Übung auch nicht besonders hoch eingeschätzt, wohl ein Grund dafür, dass ein Großteil der NATO-Länder durch Abwesenheit glänzt. „Wir können doch nicht an jeder Veranstaltung teilnehmen“, heißt es bei der Bundeswehr, die mit weitaus wichtigeren Aufgaben im Ausland beschäftigt ist und sich nach NATO-Auskünften auf eine weitaus aktivere Rolle bei einem Herbstmanöver in der Ukraine vorbereitet. Trotzdem birgt dieses Manöver eine gewisse politisch-diplomatische Brisanz. Da es von längerer Hand vorbereitet wurde, ist der Zeitpunkt der Terminierung bedeutender als der der Durchführung. Denn zu diesem Zeitpunkt konnte niemand wissen, dass der 11. September 2001 eine Annäherung von Moskau und Washington bringen würde, die schließlich zum gemeinsamen NATO-Russlandrat und damit einer De-facto-Mitgliedschaft Russlands in einem Teil der NATO-Struktur führen würde.

Als das Manöver im Frühjahr 2001 angesetzt wurde, hatten die Russen gerade die Militärbasis Vaziani verlassen und beobachteten argwöhnisch das Treiben von NATO-Ländern wie Amerika und der Türkei in Georgien. Dass diese sofort ein NATO-Manöver in Vaziani ansetzten, dürfte bei den früheren Hausherren wenig Gefallen gefunden haben. Aus dieser Zeit rührt wohl auch die Reserviertheit der russischen Militärs gegenüber dem Manöver, die sie jetzt trotz der Annäherung Putin-Bush nicht ohne größeren Gesichtsverlust aufgeben können. Da hat der russische Verteidigungs-Attachee ganz einfach die Parole ausgegeben, man sehe das Manöver neutral, nicht negativ, und damit vielen Stammtischdiskussionen und journalistischen Strategiespielchen in Tbilissi die Grundlage entzogen. Vor einem Jahr allerdings, als im Schwarzen Meer ein ähnliches Manöver zur See stattfand, war das Gebrummel des russischen Militärbären noch weitaus deutlicher zu vernehmen. Vielleicht gewöhnt man sich an die neuen Nachbarn und Kollegen im früheren Hinterhof des Riesenreiches. Beobachter glauben, dass den Russen das NATO-Manöver, an dem immerhin mehrere ehemalige Sowjetrepubliken teilnehmen, mittlerweile ziemlich egal sei. Es gibt wohl wichtigeres zu besprechen auf der Bühne der großen Politik. So wird als Hauptergebnis dieses Manövers wohl die Tatsache bleiben, dass die Georgier die Militärbasis Vaziani einigermaßen hergerichtet bekamen. Vermutlich hat Georgien sich deshalb um dieses Manöver beworben, weil man ohne fremde Hilfe mit der russischen Hinterlassenschaft Vaziani nicht viel hätte anfangen können.

Bleibt am Rande noch die Tatsache, dass sich die Armeen Aserbaidschans und Armeniens erstmals gemeinsam an einem solchen Manöver beteiligen. Spannungen gäbe es keine, versichern beide Seiten pflichtgemäß. Man sei Soldat und als Soldat würde man sich problemlos verstehen – Profis unter sich. Im nächsten Jahr soll ein NATO-Partnerschafts-Manöver in Armenien stattfinden. Erst dann wird sich zeigen, wie weit die Annäherung der beiden in Karabach verfeindeten Armeen geht.

Dass wenige Tage vor Beginn des Manövers Unbekannte eine ganze Reihe von Waffen aus der neuen georgischen Militärbasis gestohlen haben, wird von den NATO-Offiziellen eher gelassen gesehen und als „kaukasische Folklore“ abgehakt. Diese Aktion zielte auf das amerikanische GTEP-Programm, mit dem – ebenfalls in Vaziani – die georgische Armee aufgepäppelt werden soll. Es gibt in Sicherheitsfragen also viel zu tun, wenn die Partnerschaft für Frieden im Kaukasus langfristig Früchte tragen soll.

Soweit eine Reportage zu den ersten vorsichtigen Schritten der NATO, im südlichen Kaukasus, der seit Zarenzeiten schon der militärischen Kontrolle durch den nördlichen Nachbarn unterstand, erstmals ein wenig Fuß zu fassen. Kleine Anmerkung zum Schluss: Mit dem GTEP-Programm der USA – dem „Georgian Train- and Equipp-Program“, dessen Realisierung erst mit der aufwändigen Inszenierung der Pankisikrise ermöglicht wurde, werden wir uns in Kürze in einigen weiteren Folgen der Graswurzel-Geschichten befassen.