35 Jahre Georgien erlebt (1)

Ein Witz mit einer besonderen Botschaft

Irgendwie kaum zu glauben, aber es ist wahr. Heute am 27. Dezember vor genau 35 Jahren bin ich als Begleiter eines Schüleraustausches mit  einer Schule in Tbilissi, in der Deutsch noch vor Russisch als erste Fremdsprache gelehrt wurde, zum ersten Mal nach Georgien gekommen. Das war noch zur Sowjetzeiten, wir brauchten natürlich ein Sowjetvisum und mussten am Vortag in Moskau einreisen, damit wir dann am nächsten Morgen den „Inlandsflug“ der AEROFLOT nach Tiflis, wie die Stadt auf Russisch heißt, antreten konnten. Einreise Flughafen Moskau Scheremetjewo, wo ich bei der Pass-Kontrolle ein kurzes Gespräch mit meinem Nachbarn in der Warteschlange, dem Sowjet-Dissidenten Lew Kopelew führen konnte. Weiterflug von Moskau-Wnukowo.

Und dann der erste Abend in der Hauptstadt der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien. Natürlich mit einer ersten Supra, dem traditionellen georgischen Gastmahl mit gutem Wein und ebensolchem Essen, natürlich auch mit polyphonen Gesängen, noch etwas fremd klingend, aber damals schon faszinierend. Vorgetragen von den Schülern der ältesten Klasse der Schule, wohlgemerkt nur von den Knaben, die Mädchen waren da noch nicht zum Mitsingen eingeladen. Aber die Burschen, die uns am ersten Abend schon begeisterten, traten wenige Jahre später als „Ensemble Georgica“ in Erscheinung, auch auf Bühnen in Deutschland, der Schweiz oder Luxemburg, soweit ich ihre Tourneen begleiten konnte.

Und dann trug der Tischführer unseres ersten Abends in Georgien, der Germanistik-Professor Gruam Ramischwili, folgenden Witz vor, den ich niemals vergessen habe:

Auf dem Geländer einer Kura-Brücke stand ein Selbstmordkandidat, bereit zum finalen Sprung in den eiskalten Fluss.
Um ihn herum die Familie, die ihn davon abhalten wollte. Der Mann ließ sich aber nicht beeindrucken.
Da rief einer Freund von ganz hinten
:

„Weißt Du nicht, dass es verboten ist, in die Kura zu springen?“
Die Gegenfrage: „Wer hat das verboten?“
„Moskau hat das verboten!“
Und dann die klare Antwort des Todeskandidaten: „Was hat Moskau uns noch zu verbieten!!!!“
Er sprang natürlich und setze seinem Leben ein Ende.

Das war damals ein aktueller Witz im georgischen Teil des Sowjet-Reiches, ein Witz, den wir in den folgenden 14 Tagen immer wieder zu Hören bekamen. Und damit wurde mir langsam, aber sicher klar, dass ich zwar formell in die Sowjetunion gereist war, mich aber keinesfalls mehr in derselben befinden konnte. Von den Ereignissen des 9. April 1989 hatte ich nichts mitbekommen, das wurde mir erst ein paar Tage später erzählt. Die Georgier hatten die Sowjetunion gedanklich bereits verlassen und waren längst aufgebrochen zu anderen Zielen. Dass ich diese Reise über jetzt 35 Jahre habe mit erleben dürfen und zwar meist vor Ort, an der Graswurzel eben, ist eine Geschichte, die ich damals bei dieser ersten georgischen Supra nicht im geringsten habe erahnen können.

Und jetzt kann ich mir im Jahr 2024 eine aktuelle Bemerkung nicht ersparen: Welche Geschichte würde mir heute erzählt werden, wenn ich zum ersten Mal als Gast bei einer georgischen Familien-Tafel säße? Sicher alles andere als solch ein harmloser Witz…

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