Graswurzelgeschichten

An Weihnachten 1989 reiste der deutsche Journalist Rainer Kaufmann zum ersten Mal nach Georgien, vor jetzt 35 Jahren also. Und seither ist er als Berichterstatter,  Buchautor, Reiseunternehmer und Gastronom mit dem Land aufs engste verbunden. Rainer Kaufmann hat seither die Hälfte eines jeden Jahres im Kaukasus und damit vor Ort verbracht. Grund genug für ihn, in den nächsten Monaten immer wieder mit einzelnen Geschichten an das zu erinnern, was er in dieser Zeit in und mit Georgien, seiner zweiten Heimat, erlebt hat: Graswurzelgeschichten.

(1) Ein Witz mit einer besonderen Botschaft

Irgendwie kaum zu glauben, aber es ist wahr. Heute am 27. Dezember vor genau 35 Jahren bin ich als Begleiter eines Schüleraustausches mit  einer Schule in Tbilissi, in der Deutsch noch vor Russisch als erste Fremdsprache gelehrt wurde, zum ersten Mal nach Georgien gekommen. Das war noch zur Sowjetzeiten, wir brauchten natürlich ein Sowjetvisum und mussten am Vortag in Moskau einreisen, damit wir dann am nächsten Morgen den „Inlandsflug“ der AEROFLOT nach Tiflis, wie die Stadt auf Russisch heißt, antreten konnten. Einreise Flughafen Moskau Scheremetjewo, wo ich bei der Pass-Kontrolle ein kurzes Gespräch mit meinem Nachbarn in der Warteschlange, dem Sowjet-Dissidenten Lew Kopelew führen konnte. Weiterflug von Moskau-Wnukowo. Und dann der erste Abend in der Hauptstadt der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien. Natürlich mit einer ersten Supra, dem traditionellen georgischen Gastmahl mit gutem Wein und ebensolchem Essen, natürlich auch mit polyphonen Gesängen, noch etwas fremd klingend, aber damals schon faszinierend….. weiterlesen

(2) Silvesternacht in Tbilissi

Hier die zweite Graswurzel-Geschichte aus 35 Jahren Georgien mit außergewöhnlichen Anekdoten. Die erste ereignete sich in der Silvesternacht 1989/90:

Natürlich wurden wir zum Jahreswechsel von der Leiterin der gastgebenden Schule und einer befreundeten Familie zu einer weiteren Supra eingeladen, einer Jahresend-Schlemmerei mit Wein, Trinksprüchen und Gesängen. Und das in einer großen Wohnung in einem neu-sozialistischen Apartment-Betonhochhaus. Eine Wohnung in einer der oberen Etagen mit einem kleinen Balkon und damit einer schönen Sicht über die unter uns liegende Stadt. Als um 24:00 Uhr die Knallerei losging, suchte ich sofort den Ausgang zum Balkon, ganz in der heimatlich-deutschen Tradition, das bunte Neujahrs-Spektakel in der frischen Luft anzuschauen und zu genießen. Von wegen buntes Spektakel. Es knallte zwar an allen Ecken und Enden, allerdings ohne irgendwelche bunten Raketen, Leuchtkugeln oder andere attraktive Knallkörper am mitternächtlichen Himmel. Es dauerte keine fünf Minuten, bis mich die Gastgeberin, die Schuldirektorin Nino, recht unsanft vom Balkon in die Wohnung zog und hinter mir die Tür zuknallte. Den Grund erklärte sie mir dann in heftiger Aufregung: Es gibt in Georgien kein Neujahrsfeuerwerk wie bei uns in Deutschland. Der ganze Lärm, die knallenden Geräusche stammten aus einer sowjetischen Wunderwaffe, die anscheinend in nahezu jedem Haushalt anzutreffen war, einer Kalaschnikow. Und da man kaum damit rechnen konnte, dass da mit Platzpatronen in die Neujahrsluft geschossen wurde, war das Risiko von Querschlägern recht groß. Und es soll, das wurde mir verklart, immer wieder zu Verletzungen gekommen sein bei Menschen, die sich nicht an die allgemein gültige Regel hielten: Wenns zu Silvester knallt, schließ Dich schnell in deine Wohnung ein. Draußen kanns gefährlich werden……weiterlesen

(3) Rezos Tante oder Der Sonnenaufgang von Alvani

Hier die dritte Graswurzel-Geschichte aus 35 Jahren Georgien. Sie ereignete sich in der ersten Januar-Woche des Jahres 1990, als wir mit dem Schüleraustausch für zwei Tage nach Kachetien fuhren. Erzählt habe ich sie schon im Jahr 2000 im „Landschaftsbuch Kaukaus“, damals erschienen im Prestel-Verlag, eine erste Anekdote, wie ich damals die georgische Gastfreundschaft habe erleben und „verarbeiten“ dürfen.

Es war schon spät am Abend, als uns Rezo, ein junger Lehrer aus Tbilissi, im Intourist-Hotel Kacheti in Telawi mit seinem Besuch überraschte. Rezo hatte uns Tage zuvor in Moskau abgeholt und uns sicher nach Georgien gebracht. Jetzt waren wir mit unseren Gastgebern, Lehrern und Schülern aus Tbilissi, für zwei Tage nach Ost-Georgien gefahren. Das Hotel Kacheti ist einer der typischen Bettenburgen sozialistischer Einheitsarchitektur mit dem unschätzbaren Vorteil, dass man sich sofort heimisch fühlt, egal in welchem Zipfel des untergegangenen Großreiches man sich befindet. Es war damals noch in Betrieb, präsentierte sich aber schon in einem erbärmlichen Zustand. Kein Licht, unsägliche Toiletten, keine Heizung, selten Wasser, eingeschlagene Fensterscheiben. Die Küche war außer Betrieb. „Kommt“, sagte Rezo nach dem Abendessen, das uns in einem kleinen Lokal in der Nachbarschaft serviert wurde, „kommt mit, ein paar Freunde warten“. Er hakte mich unter und zerrte mich, ob ich wollte oder nicht, einfach mit. Natürlich wollte ich… weiterlesen

(4) Der junge Patriot Paco und sein Georgien

https://www.facebook.com/giorgi.bandzeladze.5/videos/623307120370593

Das war aber eine Überraschung, als ich kürzlich dieses Video aus dem Jahr 1992 in facebook entdeckte. Es zeigt Paco Svimonishvili, den Sohn der Schuldirektorin, über die wir im Dezember 1989 erstmals nach Georgien kamen, zusammen mit den Jungs, die damals schon bei meiner ersten Supra am Tisch saßen und uns in die Geheimnisse der georgischen Polyphonie einweihten, zumindest dieses versuchten. Diese Musik wirklich zu verstehen, bedarf es einiger Jahre.

Paco – er ist leider in jungen Jahren schon verstorben – war ein ebenso begeisterter wie talentierter Dichter, was er mit dieser Liebeserklärung auf seine georgische Heimat deutlich unter Beweis stellte. Und dies vor dem klanglichen Hintergrund eines Chores, den ich später dann als „Ensemble Georgica“ auf der einen oder anderen Konzertreise durch Deutschland, Luxemburg und die Schweiz begleiten durfte. Der Mann, der ihn aufforderte, das Gedicht vorzutragen, war sein Vater Avto Svimonishvili……. weiterlesen

(5) Realitätsverlust bei allen Präsidenten
Die letzten Tage georgischer Hoffnungsträger

Sie sind in ihrer Zeit alle als Hoffnungsträger Georgiens angetreten: Swiad Gamsachurdia, Eduard Schewardnadse, Micheil Saakashwili, die drei ersten Präsidenten des nachsowjetischen Georgiens. Sie hatten anfangs jeweils die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Und sie hatten lange vor dem Ende ihrer Amtszeit das Vertrauen verspielt, ohne dies zu realisieren.
Der erste führte Georgien aus der Sowjetunion in die Unabhängigkeit; der zweite überwand die Anarchie und vermachte dem Land eine Grundstaatlichkeit, die es vorher nicht hatte; der dritte überwand Alltags-Korruption und Kriminalität und verpasste dem Land eine Modernisierungskur ohnegleichen. Das sind die Habenseiten.
Und trotzdem scheiterten sie. Der erste, weil er das Land in einer rückwärts orientierten, das glanzvolle Mittelalter Georgiens überhöhenden Staatsphilosophie in die Stagnation führte denn in die Gegenwart, von der Zukunft ganz zu schweigen. Der zweite, weil er trotz aller innen- wie außenpolitischen Anfangserfolge die alles überwuchernde Korruption seines Regierungsumfeldes nicht in den Griff bekam. Der dritte, weil er die Diskrepanz zwischen demokratischem Anspruch und selbstherrlichem Regierungsstil vor allem seiner sich selbst bedienenden Entourage, aber auch die Diskrepanz zwischen politischem Schein und sozialer Realität im Lande nicht mehr erkennen konnte. Realitätsverlust – bei allen drei die Kehrseite der Medaille Macht. Sie hatten sich in ihrer Amtszeit meilenweit von denen entfernt, die sie einmal mehr oder weniger enthusiastisch begrüßt und gefeiert haben. Gemein ist es den dreien auch, dass es jeweils enge Mitstreiter waren, die vor und hinter den Kulissen den Niedergang herbeiführten, aus welchen Motiven auch immer. Gamsachurdia wurde von Tengiz Kitowani, seinem ehemaligen Leibwächter und Verteidigungsminister der ersten Zeit, und  Tengiz Sigua, seinem Ministerpräsidenten, gestürzt. Schewardnadse wurde machtlos, als sich seine ehemaligen Vertrauten Saakaschwili und Schwania – der eine Justizminister, Parlamentspräsident der andere – von ihm losgesagt hatten. Mit mehr oder weniger offenkundiger Unterstützung von engsten Mitarbeitern Schewardnadses, die nach außen loyal, in den entscheidenden Stunden der so genannten „Rosenrevolution“ aber nicht ganz ohne Planung und Strategie die Seiten gewechselt hatten….. weiterlesen