Silvesternacht in Tbilissi
Hier die zweite Graswurzel-Geschichte aus 35 Jahren Georgien mit außergewöhnlichen Anekdoten. Die erste ereignete sich in der Silvesternacht 1989/90:
Natürlich wurden wir zum Jahreswechsel von der Leiterin der gastgebenden Schule und einer befreundeten Familie zu einer weiteren Supra eingeladen, einer Jahresend-Schlemmerei mit Wein, Trinksprüchen und Gesängen. Und das in einer großen Wohnung in einem neu-sozialistischen Apartment-Betonhochhaus. Eine Wohnung in einer der oberen Etagen mit einem kleinen Balkon und damit einer schönen Sicht über die unter uns liegende Stadt. Als um 24:00 Uhr die Knallerei losging, suchte ich sofort den Ausgang zum Balkon, ganz in der heimatlich-deutschen Tradition, das bunte Neujahrs-Spektakel in der frischen Luft anzuschauen und zu genießen. Von wegen buntes Spektakel. Es knallte zwar an allen Ecken und Enden, allerdings ohne irgendwelche bunten Raketen, Leuchtkugeln oder andere attraktive Knallkörper am mitternächtlichen Himmel. Es dauerte keine fünf Minuten, bis mich die Gastgeberin, die Schuldirektorin Nino, recht unsanft vom Balkon in die Wohnung zog und hinter mir die Tür zuknallte. Den Grund erklärte sie mir dann in heftiger Aufregung: Es gibt in Georgien kein Neujahrsfeuerwerk wie bei uns in Deutschland. Der ganze Lärm, die knallenden Geräusche stammten aus einer sowjetischen Wunderwaffe, die anscheinend in nahezu jedem Haushalt anzutreffen war, einer Kalaschnikow. Und da man kaum damit rechnen konnte, dass da mit Platzpatronen in die Neujahrsluft geschossen wurde, war das Risiko von Querschlägern recht groß. Und es soll, das wurde mir verklart, immer wieder zu Verletzungen gekommen sein bei Menschen, die sich nicht an die allgemein gültige Regel hielten: Wenns zu Silvester knallt, schließ Dich schnell in deine Wohnung ein. Draußen kanns gefährlich werden. Heute ist das längst anders, keine Frage. Heute gibt es das ganze Jahr über immer wieder Feuerwerke über der Hauptstadt. Die Anlässe: Hochzeiten oder Geburten. Und das mit den Kalaschnikows als Familienspielzeug hat sich auch schon lange erledigt. So einfach ist das mit dem Waffenbesitz heute auch nicht mehr.
Apropos Kalaschnikow: Als wir drei Jahre später erstmals mit Touristen in die Hochgebirgsregion Swanetien, die Krone des Kaukasus, gefahren sind und dies in einer kleinen Kolonne von vier oder fünf Lada Nivas, da fiel mir beim Beladen der Kofferräume eine in Packpapier eingewickelte längere Apparatur auf. Auf meine Frage, was das sei, erhielt ich die Antwort: „Nichts besonderes, nur ein Stativ“. Wozu wir bei diesem einwöchigen Ausflug ein Stativ bräuchten, wurde mir nicht erklärt, ich habe gleich gar nicht danach gefragt. Die Erklärung kam dann vor Ort, als wir an einem Hochgebirgspass den ersten Fotostopp einlegten. Unser Fahrer, ein Bursche aus der Nachbarschaft der Schulleiterin, packte sich das Stativ, wickelte es aus dem Papier und hängte es mit dem dafür vorgesehenen Riemen über seine Schulter, um dann demonstrativ an den parkenden Fahrzeugen Patrouille zu laufen. Es war eine Kalaschnikow, die im Keller im Stadtteil Vera bereit lag für familiäre Einsätze wie diesen. Swanetien galt damals als gefährliche Region und da fanden es unsere Gastgeber angebracht, jedwedem spähendem Auge in dem ein oder anderen Gebüsch klar zu machen, hier gibt es nichts zu erben. Wir werden uns und unsere Gäste angemessen verteidigen.
Dass diese Vorsichtsmaßnahme nicht ganz unberechtigt war, haben wir in den nächsten Jahren bei der einen oder anderen Reise durch das Land, vor allem in Swanetien erfahren dürfen. Da gab es immer wieder mal einen Zwischenfall, von dem einen oder anderen war ich selbst betroffen.
Und noch eine seltsame Geschichte aus diesen Jahren. Auf der Rückfahrt von Uschguli über den Zagar-Pass hielten es unsere Gastgeber für angebracht, uns eine Polizei-Eskorte aus Skaltubo, wo wir im ehemaligen Gästehaus des Zentralkomitees der georgische KP untergebracht waren, zu organisieren. Die Polizisten fuhren vor uns her. Als sie an der Verwaltungsgrenze von Swanetien und Imeretien, ihrem Heimatbezirk, ankamen, stoppten sie die Kolonne, steigen aus ihrem Dienstfahrzeug aus und gaben mehrere Gewehrsalven in die Luft ab, anscheinend als Zeichen der Erleichterung, dass sie das gefährliche Swanetien unversehrt überstanden hatten und wieder in ihrem Heimat-Gäu angekommen waren. Und damit wir uns an diesem Freudenfest beteiligen konnten, drückte man uns auch die Knarren in die Hand und bedeutete, dass wir ebenfalls unser Autogramm in die Luft abgeben sollten. Wir sind dieser Aufforderung selbstredend nicht nachgekommen.
Alles Geschichten, die aufzeigen können, dass das Narrativ vom „Wilden Kaukasus“ wohl nicht nur landschaftsbezogen war. Es hatte durchaus auch etwas mit dem Charakter seiner Ur-Einwohner zu tun, egal mit welchem der Hochgebirgs-Stämme oder mit welcher Region man es zu tun hatte. In der einen oder anderen Graswurzel-Geschichte wird es dazu weitere Anekdoten geben. Es waren manchmal wirklich wilde Zeiten, die ersten Jahre in Georgien, wenigstens kamen sie uns Mitteleuropäern, aufgewachsen in der ruhigen Nachkriegszeit, so vor.
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